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Grosz_Mythos_Wirklichkeit_300Groß, Gerhard P.: Mythos und Wirklichkeit. Geschichte des operativen Denkens im deutschen Heer von Moltke d. Ä bis Heusinger. Paderborn, München 2013

ISBN 978 3506 775 542, 361 Seiten, 39,90 €

Notorisch zu kurz gedacht. Gerhard Groß rekonstruiert in seiner Studie Möglichkeiten und Grenzen einer militärischen Handlungsmaxime im Bismarckreich

Was steckte tatsächlich hinter dem Mythos des operativen Denkens im Preußisch-deutschen Generalstab? Der Potsdamer Historiker Gerhard P. Groß hat nun in einer breit angelegten und gut gegliederten Studie den ambitionierten Versuch unternommen, Genese , Eckpunkte und Defizite dieser prägenden Schule während der Zeit des Bismarckreiches (1871-1945) zu rekonstruieren und schließlich auch die Ursachen ihres katastrophalen Scheiterns in zwei Weltkriegen offenzulegen. Ganz neu ist sein Ansatz allerdings nicht. Schon vor fast 50 Jahren hatte der deutsch-israelische Militärhistoriker Jehuda Wallach die hochgradige Einseitigkeit des militärischen Denkens in Preußen-Deutschland als „Dogma der Vernichtungsschlacht“ in seiner gleichnamigen Studie bezeichnet.

Während Wallach allerdings eine nach seiner Auffassung einseitige Clausewitz-Rezeption in der preußischen Armee zum Ausgangspunkt seiner Analyse wählte, steigt Groß erst bei der Reichsgründung in sein Thema ein. Die Befunde sind aber höchst ähnlich. Für ein durch die erfolgreichen Einigungskriege (1864-1871) geprägtes Offizierskorps konnte das Deutsche Reich in seiner bedrohten Mittellage und der wachsenden Abhängigkeit seiner Industrie von fremden Einfuhren keine langen Kriege wie noch Friedrich der Große ein Jahrhundert zuvor führen. Es war nach Ansicht seiner führenden Militärs im Gegenteil darauf angewiesen, im Falle eines europäischen Konfliktes an zwei Fronten die eine Seite rasch niederzuschlagen, um sich dann mit vereinten Kräften dem nächsten Gegner zuwenden zu können. Die Zauberworte hierfür waren Konzentration, konsequente Flankierung, Schnelligkeit und Flexibilität. Es fehlte jedoch eine breite Reflexion, ob im Zeitalter eines ausufernden Nationalismus mit der um jeden Preis angestrebten raschen Vernichtung der gegnerischen Streitkräfte auch bereits der Krieg beendet sein würde. Für das „Danach“ gab es kein Rezept, obwohl man Ansätze eines Volkskrieges schon 1870 in Frankreich hatte erleben müssen.

Das operative Denken im deutschen Heer wies somit ein strukturelles strategisches Defizit auf und war im Kern sogar apolitisch. Den scheinbaren Gipfelpunkt dieser, so Groß, „kollektiven Wirklichkeitsverweigerung“ bildete der so genannte Schlieffenplan von 1905. Tatsächlich handelte es sich zunächst um eine Studie des scheidenden Generalstabschefs, der eine Zerschlagung des französischen Heeres in nur sechs Wochen durch dessen völlige Einkreisung anstrebte. Ein flexibles Operieren der Truppenführer sah das Konzept, das Schlieffens Nachfolger (Helmuth v. Moltke d. Jü.) mit einigen Abweichungen bei Kriegsausbruch 1914 tatsächlich anzuwenden versuchte, jedoch absurderweise nicht mehr vor. Als v. Klucks 1. Armee sich Anfang September 1914 die operative Freiheit herausnahm, um mit einem Rechtsschwenk gegen General Lanrezacs 5. Armee ein zweites „Tannenberg“ zu erzielen, ermöglichte seine Eigenmächtigkeit es den Franzosen, nordwestlich von Paris eine neue Armee in der Flanke der Deutschen zu massieren. Der Rest ist bekannt.

Als militärisches Allheilmittel war das operative Denken gewiß überstrapaziert, doch die ständigen Versuche des Autoren, es als Irrweg zu verdammen, erscheinen doch als zu eindeutiger Kotau vor der politischen Korrektheit. Unbedingt zuzustimmen ist ihm allerdings in seiner Kritik, daß nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg ein grundsätzliches Umdenken in deutschen Militärkreisen unterblieb. Selbst in der zur Grenzschutzarmee reduzierten Reichswehr galt der Mythos der eigenen operativen Überlegenheit immer noch als Eintrittsbillet für eine zukünftige deutsche Großmachtrolle. Im Zweiten Weltkrieg jedoch fehlte dem deutschen Heer, vor allem durch Hitlers überstürzten Kriegsbeginn, die notwendige Professionalität. Weder Ausbildungs- noch Ausrüstungsstand der mehrheitlich aus Infanteriedivisionen bestehenden deutschen Wehrmacht erlaubten tatsächlich eine Kriegführung im Sinne des operativen Denkens. Ihre überraschenden Blitzkriegserfolge in den ersten Kriegsjahren waren geglückte Improvisationen, doch schon der Angriff auf die Sowjetunion 1941 offenbarte die grundlegenden Defizite einer Zweiklassenarmee, in der kaum zwei Dutzend Großverbände zur motorisierten Operationsführung taugten. In der nach der Winterkrise 1941 eskalierenden Auseinandersetzung der Generalität mit Hitler soll sich schließlich, so Groß, die Grenzen ihres angeblich auf das Operative beschränkten Denkens am deutlichsten gezeigt haben. Während der Diktator, wenn auch auf zunehmend irrealer Grundlage, kriegswirtschaftlichen und damit immerhin strategischen Gesichtspunkten den Vorrang einräumte (ohne das kaukasische Öl müsse er den Krieg liquidieren), bestanden die Militärs weiterhin auf einer kräftesparenden beweglichen Operationsführung, die Zeit gegen Raum einzuhandeln versprach. Doch Groß geht wohl zu weit, wenn er der deutschen Generalität in der Endphase des Krieges ein strategisches Defizit vorhält und dabei ganz nebenbei noch Hitlers Kriegsführung einen rationalen Anstrich verleiht. War es denn nicht politisch gedacht, wenn etwa Generalfeldmarschall Erich v. Manstein im Frühsommer 1943 über die Möglichkeit eines „Remis“ an der Ostfront nachdachte, um dem nicht zu gewinnenden Zweifrontenkrieg doch noch zu entgehen? Auch den von Teilen des Generalstabes getragenen militärischen Widerstand gegen Hitler unterschlägt Groß in seinem Verdikt vollkommen. War es denn angesichts der zunehmend verzweifelten Kräfteverhältnisse seit Stalingrad und El Alamein von deutschen Generalstabsoffizieren – und es war eine durchaus nennenswerte Zahl - nicht genuin politisch gedacht, den Krieg nach der Liquidierung des Diktators sofort zu beenden, um wenigstens Deutschland in seiner Substanz zu retten?

Allerdings bleibt es bei Studien, die über Einzelfallbetrachtungen hinaus wie hier einen Zeitraum von 75 Jahren mit grundstürzenden gesellschaftlichen und technischen Veränderungen in den Focus nehmen, höchst schwierig, überhaupt eine unangreifbare Dachthese zu formulieren. In diesem Fall aber stimmt die Tendenz, trotz der zuletzt genannten Ausnahmen.   kjb


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